Seit ich IPv6 benutze, nagt die Frage an mir, wie wir eigentlich jemals auf die Idee gekommen sind, daß wir eine Art Naturrecht darauf haben, bei jeder Einwahl ins Internet eine “anonyme”, immer andere IP-Adresse zu bekommen, und daß obendrein der Provider sich am besten nicht merken sollte, welchem Kunden er wann welche IP zugewiesen hat.
Über die Steinzeit des Internet, an irgendwelchen Forschungseinrichtungen, kann ich nicht viel sagen. Aber ich kann sagen, daß ich nach meinen ersten Schritten mit Compuserve & Co. während eines großen Teils der 1990er Jahre mal mehr, mal weniger statische IP-Adressen (einmal sogar ein komplett geroutetes Subnetz) bei den damals noch üblichen örtlichen Providern hatte. Auf die Idee, daß man mich bei Straftaten nicht aufgrund meiner IP würde ermitteln können, wäre ich niemals gekommen.
Um 2000 ging es dann mit der berüchtigten ISDN-Flatrate von T-Online los. Ab da hatte ich keine auch nur in gewissem Rahmen vorhersagbare IP-Adresse mehr. Spätestens als kurz darauf DSL kam und die Leitungen verhältnismäßig schnell waren, regte sich Protest im Web darüber, daß es sich bei dynamischen IPs um ein reines Instrument der Provider handelte, um den Betrieb von Servern an der nun vorhandenen “Standleitung” zu unterbinden. Wir alle kennen die in dieser Zeit groß gewordenen Workarounds mit DynDNS und seinen Freunden.
Im nächsten Augenblick kamen dann Napster und der vermeintliche Niedergang irgendwelcher Content-Industriezweige, und damit sind wir schon zu 100% bei den Verhältnissen, die heute, 10 Jahre danach, herrschen.
Heute steht die Einführung von IPv6 unmittelbar bevor. Ich benutze einen IPv6-Tunnel bei SixXS. Wenn jemand die dynamisch per IPv6 Privacy Extensions generierte IPv6-Adresse eines Notebooks, das an meinem LAN angeschlossen ist, über whois nachschlägt, steht sofort mein Name auf dem Bildschirm. Ohne Privacy Extensions würde jeder Kommunikationspartner sogar die Hardwareadresse meines Endgeräts sehen. Das ist die IPv6-Welt, und jedes Gerät individuell adressierbar zu haben, ist ja auch objektiv betrachtet eine tolle Sache. Die Verhältnisse aus den 1990ern, als ich mein kleines Subnet hatte, sind wieder hergestellt: Ich muß nur einen Port auf der Firewall öffnen und kann mich dann von überall aus per SSH auf meine Workstation verbinden, ohne mich mit irgendwelchem schäbigen NAT-Gefrickel abmühen zu müssen.
Gleich danach kommt aber schon die Frage: Was passiert eigentlich, wenn mein DSL-Provider endlich anfängt, natives IPv6 anzubieten? Wie wird man diesmal, wo ich immerhin schon schlappe 5 Megabit Uplink habe, versuchen, den Betrieb der DSL-Leitung als “Standleitung” zu unterbinden? Die Vergabe dynamisch zugewiesener IPv6-Blöcke, aus denen die IPs dann vom DSL-Router per Autokonfiguration auf die angeschlossenen Endgeräte zugewiesen werden, wäre ja technisch überhaupt kein Problem. Aber das will doch eigentlich niemand. Oder wollen das vielleicht die Datenschützer? Und wenn sie es als einzige wollen, wer ist es, der mir heute zum zweiten mal die Nutzbarkeit der Internetanbindung einschränken will? Der DSL-Provider, oder die Datenschützer? Was treibt uns dazu, die Provider-Schikane mit wechselnden IP-Adressen plötzlich mit Datenschutz zu verwechseln?
Das ist eine Zuspitzung. Datenschutz ist genau mein Ding. Die Speicherung von Verbindungsdaten auf Vorrat ist eine klare Kriminalisierung der gesamten Bevölkerung. Aber ich glaube, daß die Zuordnung zwischen einem DSL-Router und seiner IP-Adresse, die er an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit hatte, seriöserweise nicht geheim gehalten werden kann. In dem Moment, wo der Versuch, sie irgendwie geheim zu halten, für mich zu Nutzungsbeschränkungen (wie eben wechselnden Adressen) führt, beschleicht mich der Gedanke, daß sie nicht im Fokus des Datenschutzes stehen sollte.
In den 1990ern mußte ich keine Angst vor Strafverfolgung aufgrund meiner IP-Adresse haben. Genau genommen, brauche ich das auch heute nicht. Kinderporno, Drogenhandel, Terrorismus, Erpressung, Vorschuß- und Auktionsbetrug und was auch sonst immer verboten ist, sind Dinge, die ich nicht auf der Agenda habe, und die 1995 schon genauso verboten waren, wie sie es 2011 sind. Trotz der Beteuerungen idiotischer Politiker, die bis heute darauf pochen, daß das Internet noch immer ein rechtsfreier Raum sei.
Ich wünsche mir ein Internet, in dem meine Bürgerrechte zählen und geschützt werden. Eine Gesellschaft der ich meine Meinung frei äußern kann, ohne damit rechnen zu müssen, daß mich eine Firma erfolgreich abmahnen kann, weil ich kein Budget für Anwälte habe. In der ich programmieren kann, ohne Angst vor Patentklagen haben zu müssen, die von keiner Rechtsschutzversicherung abgedeckt sind. In der ich mich mit IT-Sicherheit beschäftigen kann, ohne auf alberne “Hackerparagraphen” schielen zu müssen. In der ich einen Unbekannten kurz meinen Internetanschluß benutzen lassen kann, ohne als “Mitstörer” bezichtigt zu werden. Eine Gesellschaft, in der meine Schwiegermutter ihrem Enkel die Privatkopie einer MP3-Datei geben kann, ohne damit rechnen zu müssen, daß sie bei weiterer Weitergabe aufgrund eines darin enthaltenen, geheimen digitalen Wasserzeichens mit einer Urheberrechtsklage überzogen wird.
(Hoppla! Da wären wir dann auf einmal wieder beim Internet des Jahres 1999. Wer hätte das gedacht?)
Wenn der Staat mich nicht vor diesen Umständen schützen kann, sondern sie sogar vorantreibt (“rechtsfreier Raum”), und die private Meinungsäußerung im Internet am liebsten abgeschafft sähe; welches Vertrauen soll ich dann in den Datenschutz der Zuordnung zwischen meiner IP-Adresse und meinem DSL-Zugang haben?
Dieses kleine Krümelchen Datenschutz ist vollkommen wertlos und lenkt nur vom Thema ab. Laßt mich damit in Ruhe und nehmt mir nicht schon wieder das Spielzeug weg!